Die Patientenverfügung im Wandel der Zeit

Ingrid Alsleben   28. November 2019   Kommentare deaktiviert für Die Patientenverfügung im Wandel der Zeit

Vor rund 2400 Jahren schrieb Hippokrates „Denn der Arzt muss dafür sorgen, dass das Heilbare nicht unheilbar werde“ und zugleich mahnte er „Im Unheilbaren muss er sich auskennen, damit er nicht nutzlos quäle.“

Genau das scheint unser heutiges Dilemma zu beschreiben – die Kunst, das eine – das Heilbare – vom anderen – dem Unheilbaren – zu unterscheiden. Denn: Geborenwerden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit – so die biblischen Zeilen des Prediger Salomo.

Der rasante medizinisch-technische Fortschritt hat uns in die Lage versetzt, den Todeszeitpunkt um Jahre hinauszuschieben: die Lebenserwartung steigt und steigt – aber ist die so gewonnene Lebenszeit immer ein Gewinn?

Vor allem seit dem letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts können immer mehr Krankheiten geheilt und immer mehr Menschenleben gerettet werden. Dazu beigetragen haben nicht nur die „Apparate“ der Intensivstationen, sondern auch die Erfindung der PEG im Jahre 1984; diese Magensonde ist zweifelsohne in vielen Fällen ein Segen. Durch sie kann wenn nötig über einen langen Zeitraum hinweg künstlich ernährt werden und insofern gäbe es ohne sie kein sich über viele Jahre hinziehendes Koma.

In den 1970er Jahren wurde daher die Frage aufgeworfen „Darf die Medizin alles, was sie kann?“ Viele Menschen hatten inzwischen mehr Angst vor der qualvollen Verlängerung ihres Sterbens durch die sogenannte Apparatemedizin als vor dem Sterben selbst – es entstand die Idee der Patientenverfügung: man wollte für einen natürlichen Tod und gegen Lebensverlängerung um jeden Preis vorsorgen.

Die ersten Versuche in dieser Richtung wurden „Patienten-Testamente“ genannt und entstammten vorwiegend der Feder von Juristen; da es noch keine gesetzliche Regelung gab, wie so eine Patientenverfügung auszusehen hat, bewegte man sich auf unbekanntem Terrain. Die ersten Dokumente enthielten nicht selten Formulierungen, über die sich Ärzte lustig machten: aus ihrer Sicht waren sie völlig praxisfremd und fanden deswegen wenig Akzeptanz.

2009 wurde nach jahrelanger Diskussion schließlich eine Regelung zur Patientenverfügung in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt: § 1901 a.

Der Streit im Vorfeld dieses neuen Paragraphen drehte sich vor allem um die Frage, ob ein Patient in einer solchen Patientenverfügung uneingeschränkt über sich selbst verfügen darf; ob er für jede Krankheit – z.B. auch für Demenz – und für jedes Stadium oder z.B. nur für das Endstadium einer Erkrankung seinen Willen durchsetzen darf. Zu diesen Fragen hatte sich bereits der Bundesgerichtshof sehr klar geäußert und seiner Argumentation folgte dann auch der Gesetzgeber: das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gilt unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung. Eine ganz andere Frage ist, ob von allem, was das Gesetz zulässt, auch wirklich Gebrauch zu machen ist – das ist die Frage nach den ethischen Grenzen einer Patientenverfügung. Hier geben vor allem die beiden großen Kirchen in Deutschland durchaus unterschiedliche und sehr differenzierte Antworten auf die Frage, ob und inwieweit die Patientenverfügung Vorsorge für den Fall einer demenziellen Erkrankung oder einer Hirnschädigung treffen soll.

Unabhängig von diesen ethischen Fragen treffen die allermeisten heutigen Patientenverfügungen grob vereinfacht Regelungen zu folgenden Fragen:

Wann will ich, dass dieses oder jenes nicht mehr für mich getan wird oder gehöre ich zu denjenigen, die alle Möglichkeiten bis zum Schluss für sich ausgeschöpft sehen möchten und wollen eben dieses festlegen.

Dabei findet sich immer als Einleitung der Satz „Für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr klar bilden oder äußern kann….“. Für den Juristen ist das eine Selbstverständlichkeit, die man aber gar nicht oft genug wiederholen kann – solange man „klar im Kopf ist“ sagt man selber, was man will oder nicht will, da braucht man keine Patientenverfügung! Und ebenso wichtig ist, dass die einmal in einer Patientenverfügung getroffenen Regelungen nie „in Beton gegossen“, sondern jederzeit wieder änderbar sind (Entscheidungsfähigkeit vorausgesetzt).

Inzwischen sind seit Inkrafttreten des § 1901a BGB einige wegweisende Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zum Thema Patientenverfügung ergangen; danach reicht es nicht, in einem Dreizeiler zu verfügen „mein Leben soll nicht an Maschinen enden“ . Das Gericht hat sehr ausführlich dargelegt, welche Anforderungen an rechtssichere Patientenverfügungen zu stellen sind. Ein solches Dokument brauchen wir ja in der Regel erst und nur für den Fall, dass etwas nicht „rund läuft“ – z.B. für den Fall, dass Streit innerhalb der Familie entsteht oder ein Arzt den Patientenwillen nicht umsetzen will; schlimmstenfalls muss solch eine Patientenverfügung also auch vor Gericht standhalten. Aus diesem Grund sind rechtssichere Formulierungen unerlässlich. Aber welches der vielen u.a. im Internet erhältlichen Formulare ist tatsächlich rechtssicher und zugleich praktikabel? Diese Frage ist für einen Laien sicher kaum zu beantworten. Hinzukommt, dass eine Patientenverfügung extrem schwer zu verstehen ist – es ist eine komplexe Mischung aus medizinischen und juristischen Formulierungen. Daher wundert es nicht, wenn entweder „auf irgendeinem Formular ein paar Kreuze gemacht werden“ oder das Vorhaben von Jahr zu Jahr verschoben wird – das eine ist so fatal wie das andere! Kompetente Beratung ist das A und O. Und hier können die Hospizvereine eine wichtige Rolle übernehmen: ihre Ehrenamtlichen können nach fundierter Schulung in den rechtlich zulässigen Grenzen die Beratung zum Thema Vorsorge, insbesondere zur Patientenverfügung, übernehmen. Eine solche Beratung kann – lange bevor es um einen konkreten Fall der Begleitung geht – der erste Kontakt zum örtlichen Hospizverein sein und damit Hemmschwellen und Berührungsängste überwinden helfen. Denn es ist wichtig, dass mehr Menschen gute Patientenverfügungen haben. Das hat auch die Politik inzwischen erkannt; 2016 wurde gesetzlich geregelt, dass künftig in Pflegeheimen eine qualifizierte Beratung zum Thema Patientenverfügung angeboten und von den Krankenkassen bezahlt wird.

Was aber macht eine „gute“ Patientenverfügung aus?

Die Basis einer guten Patientenverfügung bildet ein rechtssicheres Formular. Aber: das Leben ist viel zu vielfältig, als dass man mit einem vorformulierten Formular alle Wechselfälle des Lebens beschreiben könnte – es wird häufig anders kommen. Das hat auch der Gesetzgeber erkannt: im Gesetz steht sinngemäß „wenn die Patientenverfügung nicht passt – weil es eben anders liegt, als dort beschrieben – dann muss der Arzt zusammen mit den Bevollmächtigten den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln“ . Es muss der Frage nachgegangen werden, was der Patient gewollt hätte, wenn er gewusst hätte, wie es nun gekommen ist. Wie aber wollen die Bevollmächtigten wissen oder gar belegen, was ihr Angehöriger in der konkreten Situation gewollt hätte???

Um genau diese Frage gut beantworten zu können sollte jede gute Patientenverfügung ein sogenanntes „persönliches Kapitel“ enthalten. Manche sprechen auch von einer „persönlichen Erklärung“, in der Broschüre des Bundesjustizministeriums ist von einer „Werte-Anamnese“ oder einem „Werte-Kapitel“ die Rede – egal, wie man es nennt – immer geht es um Ihre persönlichen Gedanken rund ums Lebensende. Das soll kein epischer Besinnungsaufsatz sein – einige wenige aussagekräftige Sätze reichen. Da geht es zum Beispiel um die Frage, ob es Ihnen am Lebensende eher auf die Lebensqualität als auf die Zahl der Jahre ankommt. Ob Sie vielleicht jetzt schon denken „wenn es nun zu Ende geht ist

das in Ordnung für mich“. Oder um die Frage, wie Sie mit Schmerzen umgehen. Hilfreich kann es auch sein, wenn Sie beschreiben können, was „lebenswert“ für Sie bedeutet – da sagte eine Dame z.B. „solange ich mich noch ärgern oder freuen kann ist das Leben für mich lebenswert“.

Mit solch einem „persönlichen Kapitel“ helfen Sie Ihren Bevollmächtigten auch in Fällen, die nicht in der Patientenverfügung beschrieben sind, eine Ihren Vorstellungen entsprechende Lösung zu finden.

Eine „gute“ Patientenverfügung besteht also aus 2 Teilen – einem rechtssicheren Formular und einem persönlichen Kapitel.

Hilft solch eine aussagekräftige Patientenverfügung in allen Lebenslagen? Klare Antwort: nein. Denn sie gilt ja nur für „festgestellte Lebensendsituationen“; es muss in irgendeiner Weise feststehen, dass Ihr Leben zu Ende geht – nur für diesen Fall soll dem Sterben seinen Lauf gelassen werden. Dieser relativ enge Anwendungsbereich unserer Patientenverfügungen ist einerseits eine Beruhigung – es wird lange genug, aber eben nicht zu lange alles medizinisch Sinnvolle für Sie getan. Vor allem wird in einer akuten gesundheitlichen Krise zunächst einmal gerettet, wiederbelebt, vielleicht auf die Intensivstation gebracht, künstlich beatmet etc. Das ist für die meisten von uns das, was wir wollen. Aber es gibt auch Menschen, die das anders sehen. Gemeint sind vor allem Hochbetagte, deren Leben noch nicht zu Ende ist und die sich gleichwohl als lebens-satt empfinden – es ist genug……Sie möchten in einer Krise auf keinen Fall gerettet werden und schon gar nicht möchten sie sich mit einem Beatmungsschlauch im Hals auf einer Intensivstation wiederfinden. Oft weiß das auch der behandelnde Hausarzt und trotzdem muss er erst einmal die medizinische Maschinerie in Gang setzen – das ist nicht immer im Sinne des Patienten und insofern auch für den Arzt sehr belastend. Da wird auf der Basis der allgemeinen Pflicht Leben zu retten, vieles getan, was der Betreffende gar nicht mehr will. All dies geschieht, entweder, weil keine Patientenverfügung vorhanden ist oder aber es gibt eine, ihre Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt, weil noch nicht feststeht, dass das Leben wirklich unumkehrbar zu Ende geht.

An diesem Punkt setzt eine Bewegung ein, die vor gut 25 Jahren in den USA begann – Advance Care Planning heißt sie dort. In Deutschland findet man vergleichbare Projekte z.B. unter dem Titel „Beizeiten begleiten“ oder „Behandlung im Voraus planen“. Alle haben zum Ziel, die Zahl der Patientenverfügungen zu erhöhen und ihr Anwendungsspektrum durch ergänzende Formulare, wie z.B. einen Notfallbogen, zu erweitern. Qualifizierte Beratung und Einbeziehung der Vertrauenspersonen sowie der Hausärzte sind weitere wichtige Kennzeichen.

Bis all dies überall optimal funktioniert wird sicher noch Zeit vergehen – nutzen wir sie, um die Zahl guter Patientenverfügungen heutiger Art deutlich zu erhöhen und unterstützen wir ihre Fortentwicklung!

Ingrid Alsleben, Rechtsanwältin in Gifhorn